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Allgemeine Zeitung Mainz, keine Willkür, Kommentar von Jens Kleindienst zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Von Christian Schröter, 31. November 2023, Lesedauer 3 Minuten, 26 Sekunden

Allgemeine Zeitung Mainz, keine Willkür, Kommentar von Jens Kleindienst zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Mainz, 31. Oktober 2023

Nicht zweimal in derselben Sache – lateinisch »ne bis in idem« – lautet einer der wichtigsten Grundsätze der Rechtsprechung. Das Grundgesetz buchstabiert ihn in #Artikel 103 aus – und wer möchte widersprechen, dass es falsch wäre, eine Person für eine #Straftat zweimal zur #Rechenschaft zu ziehen. Doch kann ein im Prinzip unstrittiger #Rechtsgrundsatz im Einzelfall zu einer Entscheidung führen, die nur schwer zu ertragen ist. So im Fall eines Angeklagten, der vor Jahrzehnten vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde, im Lichte neu aufgetauchter Erkenntnisse aber mehr denn je als Täter infrage kommt.

Sollte man den Tatverdächtigen nicht wieder vor Gericht stellen dürfen? Ja, sagt der gesunde Menschenverstand. Ja, hat auch die große #Koalition gesagt und 2021 an der Strafprozessordnung geschraubt, damit in solchen Fällen eine erneute #Strafverfolgung möglich wird. Nein, hat jetzt das Bundesverfassungsgericht gesagt und deshalb die Gesetzesänderung für nichtig erklärt. Damit bleibt ein Mord wohl ungesühnt, für die Angehörigen des Opfers ein schlimmes Ende. Die Begründung der Verfassungshüter: Artikel 103 schütze nicht nur bereits einmal #Verurteilte, sondern auch Freigesprochene vor einem erneuten Strafverfahren. So interpretieren die Verfassungsrichter den Satz: »Niemand darf wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.«

Man kann es so formulieren: Der Rechtsstaat hat seine Chance, den Täter vor Gericht der Tat zu überführen. Eine zweite bekommt er nicht. Muss das so sein? Ja. Dürfte der Rechtsstaat es erneut versuchen, würde das in letzter Konsequenz der Willkür Tür und Tor öffnen – es könnte so lange angeklagt werden, bis eine Verurteilung zustande kommt. In einer #Demokratie mit unabhängiger #Justiz mag das sehr theoretisch klingen. Auch gibt es andere demokratische Rechtssysteme, die eine erneute Anklage in bestimmten Fällen zulassen. Karlsruhe legt hier einen besonders strengen Maßstab an. Das Bundesverfassungsgericht verletzt damit das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen, was keine Kleinigkeit ist. In seiner Begründung beruft es sich nicht zuletzt auf die furchtbaren Erfahrungen mit einer willfährigen Justiz während 12 Jahren #Naziherrschaft. Dies habe die #Mütter und #Väter des Grundgesetzes bewogen, mit Artikel 103 einen starken #Schutz zu formulieren. Es beruhigt, dass die #Richter in #Karlsruhe sich diesem Erbe verpflichtet fühlen, auch wenn daraus ein #Urteil erwächst, das alles andere als populär sein dürfte.

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Vor allem geht es aber um den Aspekt, dass man sich auf das Urteil eines Gerichts verlassen können muss. Betrachtet man es so herum und versteht man den Gedanken, dann dürfte das Urteil sogar sehr populär sein. Man stelle sich vor, ein Freigesprochener müsste für immer Angst haben, doch noch verurteilt werden? Und wenn man das weiterspinnt, könnte es dann auch sukzessive möglich werden, dass ein Verurteilter irgendwann doch freigesprochen wird. Moment mal – das ist ja möglich. Sonst könnten Fehlurteile nicht korrigiert werden. Und hier zeigt sich, dass wir es mit einem individualistisch positivistischen Ansatz zu tun haben, dass das besagte Urteil also eine rein positivistische Auslegung darstellt – jedenfalls aus Sicht des Beklagten. Ein Urteil kann also zu Gunsten eines Verurteilten korrigiert werden, aber nicht zu seinen Ungunsten. Umgekehrt kann es also quasi zu Lasten des »Volkes«, des Staates, des Klägers korrigiert werden, aber nicht zu dessen Gunsten. Was soll man davon halten? Ein Dilemma. Im Grunde genommen widerspricht das Urteil also dem gesunden Menschenverstand und jeder Rechtslogik und jedem gesunden Rechtsempfinden. Auf den 3. Blick. Und zwar krass. Der Fall, aufgrund dessen es ausgesprochen wurde ist gar nicht als Grundlage geeignet – denn hier gab es dank besserer DNA Analysen lediglich ein neues Indiz – aber keinen Beweis. Ein Indizienprozess führt also zu einer Grundlagenentscheidung. Es hätte also gerade im Hinblick auf die Erfahrungen mit der NS Justiz anders ausfallen sollen. Aber eben nicht in Bezug auf den ursächlichen Fall. Es hätte anders ausfallen sollen – und zwar so, dass ein erneutes Verfahren möglich sein müsste – wenn Beweise (aber nicht Indizien) vorliegen.

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