Boot mit jüdischen Flüchtlingen auf dem Weg von Falster in Dänemark nach Ystad in Schweden, zwischen September 1943 and Oktober 1943. Foto: Palnatoke, National Museum of Denmark from Denmark
Von Christian Schröter, 30. November 2021, Lesedauer 9 Minuten, 42 Sekunden
Die Rettung der dänischen Juden
Die Rettung der dänischen Juden im Oktober 1943 während der Zeit des Nationalsozialismus ist in der Geschichte der im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebiete in Europa ein einmaliges Beispiel. Sie wurde durch den deutschen Diplomaten Georg Ferdinand Duckwitz (1904 bis 1973) möglich und verhinderte den Mord an vielen Juden im Zuge des #Holocaust.
Dänemark während der Zeit des Nationalsozialismus
Dänemark verfolgte während der Zeit des Nationalsozialismus eine pragmatische deutschfreundliche Neutralitätspolitik, unter anderem, weil die deutsche Wirtschaft eine große Rolle spielte und das Land militärisch hilflos war. Nach der Besetzung Dänemarks durch Deutschland am 9. April 1940 wurde zwischen der dänischen Einheitsregierung und dem Deutschen Reich eine Zusammenarbeit auf der Basis innenpolitischer Unabhängigkeit vereinbart. Diese von manchen als unheroische und manchmal schmachvoll angesehene Kooperation ermöglichte der dänischen Regierung unter Hinweis auf die Dänemark zugesagte Rechtsstaatlichkeit, jede Diskriminierung (also auch Judenregistrierung, -kennzeichnung und -verfolgung) abzulehnen, während die deutsche Seite versuchte, Dänemark durch einen Reichsbevollmächtigten vom Auswärtigen Amt als ein arisches »Vorzeigeprotektorat« zu entwickeln. Die wichtigen dänischen Nahrungsmittellieferungen ins Reich erhöhten sich und die deutschen Besatzungskosten waren im europäischen Vergleich die geringsten.
Auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 äußerte Unterstaatssekretär Martin Luther vom Auswärtigen Amt, es empfehle sich, die nordischen Länder wegen der geringen Judenzahlen und der zu erwartenden Schwierigkeiten vorerst bei der »Endlösung der Judenfrage« zurückzustellen.
Die jüdische Gemeinde erfuhr gerüchteweise von Massenmorden an Juden in den besetzen Ostgebieten; ihr Exekutivrat lehnte aber noch Anfang 1943 jede Planung für eine organisierte Flucht nach Schweden ab, weil man sich der Unterstützung der nicht-jüdischen dänischen Mitbürger nicht sicher war und man mit solchen illegalen Planungen keinen Anlass für deutsche Maßnahmen geben wollte.
Flucht oder Deportation
Duckwitz, seit 1932 Mitglied der #NSDAP, hatte sich 1943 schon lange vom Nationalsozialismus abgewandt und verfügte über gute Kontakte zu führenden dänischen Sozialdemokraten. Am 22. September 1943 war er unter einem Vorwand in Schweden und versuchte, den schwedischen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson zu einem offiziellen Vorstoß Schwedens zugunsten der dänischen Juden zu bewegen. Als er am 28. September 1943 vom deutschen Reichsbevollmächtigten für Dänemark Werner Best den genauen Termin der für die Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 1943 geplanten Deportation der dänischen Juden über Deutschland in die Konzentrationslager erfuhr, informierte er umgehend den Sozialdemokraten Hans Hedtoft. Über seine dänischen Bekannten bei den Reedern informierte er den Oberrabbiner von Kopenhagen Marcus Melchior, einen aus dem oberschlesischen Beuthen geflüchteten Rabbiner. Dank eines jüdischen Feiertags verbreitete sich die Nachricht innerhalb kürzester Zeit unter den Juden in ganz Dänemark. Der „halbjüdische“ dänische Nobelpreisträger Niels Bohr und seine schwedischen Freunde erreichten nach Einschaltung des schwedischen Königs (Gustav der Fünfte) am 2. Oktober, dass über die schwedischen Radionachrichten ein Aufnahmeangebot Schwedens verbreitet wurde.
Die Forschung spricht von 7.742 Juden – von denen 1.376 nicht dänischer Staatsangehörigkeit waren – die mit 686 nichtjüdischen Familienangehörigen über den Öresund, das Kattegat und die dänische Ostseeinsel Bornholm in den nächsten Wochen Schweden erreichten. Dänische Fischer spielten eine zentrale Rolle bei der Organisation der Flucht über das Meer in das sichere Schweden. Polizei und Küstenwache der Dänen schauten bewusst weg. Die Wehrmachtführung in Dänemark war gegen die Deportation der Juden, um die bisher weitgehend harmonische Zusammenarbeit dänischer und deutscher Dienststellen nicht zu gefährden. Deshalb hatte der Reichsbevollmächtigte Best ausdrücklich angeordnet, dass die Gestapo bei ihrer Razzia keine Türen aufbrechen durfte, wenn sie bei ihren nächtlichen Entführungszügen niemanden antraf, woran sie sich offenbar hielt. Die inhaftierten »Volljuden« wurden in vier Deportationen in Konzentrationslager gebracht …
Deportationen von Juden aus Dänemark
Einer der Orte, über die die Flucht organisiert wurde, war das Hafenstädtchen Gilleleje auf der Insel Seeland. Gerade als eine größere Zahl jüdischer Flüchtlinge ein dänisches Schiff zu ihrer Rettung besteigen wollte, kam die Nachricht von einer unmittelbar bevorstehenden Verhaftung. Das Schiff legte fluchtartig ab. Die Flüchtlinge, die nicht an Bord gelangt waren, suchten fieberhaft in der ihnen fremden Kleinstadt nach Verstecken. Ein Pastor brachte einen Großteil der Flüchtlinge auf dem Dachboden der Dorfkirche unter. Die Dorfbewohner kannten das Versteck und brachten spontan Decken, Kleidung und Essen. Das Versteck wurde aber verraten, und in den frühen Morgenstunden verhafteten die Deutschen etwa 70 Flüchtlinge. Dennoch blieb Gilleleje in den folgenden Nächten ein wichtiger Fluchthafen, denn dort waren lediglich zwei Wehrmachtssoldaten der Besatzungsmacht stationiert, und der deutsche Chef der Hafenpolizei hatte seinen Untergebenen ausdrücklich nächtliche Jagd auf Flüchtlinge verboten.
Der dänisch-jüdische Überlebende von Theresienstadt Salle Fischermann berichtete im Jahre 2003 …
»Spontan ergriffen viele, viele Dänen die Initiative – alle halfen mit, wo sie nur konnten, Verstecke oder Fluchtwege zu organisieren: in Krankenwagen, ja sogar in Müllwagen, alles, was fahren konnte. Auch Krankenhäuser und Kirchen waren wichtige Verstecke. Die Dänen haben sogar Geld gesammelt, um die Fischer für die gefährliche Fluchtüberfahrt zu bezahlen. Sie hatten ja während dieser Zeit keine Einnahmen. Selbst die dann Deportierten vergaßen sie nicht und sammelten Geld für Hilfspakete, die sie in die Lager schickten. Ich möchte behaupten, dass wir nur dadurch überlebt haben.«
Unter anderem diese Rettungsaktion erklärt die relativ geringe Opferzahl im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern, die mindestens 20 Prozent (Frankreich) bis 84 Prozent (Niederlande) ihrer jüdischen Bevölkerung verloren (Deutschland 33 Prozent, 165.000 von 499.000). Diese Hilfsaktion war eine wichtige Erfahrung im dänischen Widerstand gegen die Besatzung und wird bis heute als Indikator für die Stärke der demokratischen Zivilgesellschaft in Dänemark angesehen.
Am 2. Oktober 1943 meldete Best an das Auswärtige Amt, Dänemark sei entjudet, weil sich hier kein Jude mehr legal aufhalten und betätigen könne. Die Gestapo nahm 57 Fluchthelfer fest und übergab sie der dänischen Polizei; sie wurden von dänischen Gerichten zu geringen Strafen von durchschnittlich drei Monaten Gefängnis verurteilt.
Wirkung für den dänischen Widerstand
Die dänische Widerstandsbewegung profitierte in mehrfacher Hinsicht von der humanitären Aktion, da Widerstandsbewegung, dänische Bevölkerung und das offizielle Dänemark in dieser Angelegenheit erfolgreich die gleiche sachliche Position eingenommen hatten. Die Rettungsaktion wurde in der Außenwahrnehmung hauptsächlich der Widerstandsbewegung zugeschrieben, so dass diese vermehrte Unterstützung und Zulauf aus teilweise neuen Kreisen erhielt. Einige der Fluchtrouten wurden unter stillschweigender Zusammenarbeit mit den schwedischen Behörden als konspirative Seeverbindungen zum Transport von gefährdeten Zivilisten, Agenten, Widerstandskämpfern, Kurieren, Waffen und abgeschossenen alliierten Piloten zu größeren Netzwerken ausgebaut.
Schutz des zurückgelassenen Vermögens
Nach der Flucht beziehungsweise Deportation der jüdischen Bevölkerung wurden durch dänische Polizei und Sozialdienst die Adressen der verlassenen Wohnungen über die Befragung von Hausmeistern und Nachbarn ermittelt, da es kein Judenregister gab. Die Wohnungen wurden teilweise aufgebrochen, die Wertgegenstände, Sparbücher und Bargeld für die Eigentümer sichergestellt, um Diebstahl zu verhindern. Jüdische Unternehmen erhielten dänische Treuhänder, die Mietverträge wurden gekündigt oder eine Regelung für die weitere Bezahlung gefunden, die Möbel eingelagert, und der Sozialdienst sorgte für die Weiterbezahlung von Versicherungsverträgen. Die nach dem Krieg zurückkehrenden Juden fanden in der Regel ihre Heime wohlbehalten und ihre Wertsachen gut gesichert vor.
Dänische Rettungsdiplomatie
Nach der Deportation der Juden wurde von den dänischen Stellen hart um deren Schicksal gerungen. Die dänische Forderung, Mischlinge und in Mischehe lebende Juden von weiteren Deportationen auszunehmen, konnte Best für die Dänen in Verhandlungen mit dem Reichssicherheitshauptamt nur teilweise durchsetzen. In längeren Verhandlungen mit Adolf Eichmann erreichte er am 2. November 1943 die lebensrettende Zusage, dass die deportierten Juden aus Dänemark nicht aus Theresienstadt in die Vernichtungslager weiter transportiert werden sollten. Der Außenamtsvertreter Frants Hvass konnte für die dänische Regierung durchsetzen, dass Paketsendungen mit Lebensmitteln und Kleidung nach Theresienstadt gesendet werden konnten und er mit einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes die Deportierten am 23. Juni 1944 in Theresienstadt besuchen konnte. Um die Überbelegung des Lagers zu ändern, wurden nicht-dänische Häftlinge in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau transportiert und dänische Familien konnten in renovierte und größere Wohnungen umziehen.
Aktion »Weiße Busse«
Im Dezember 1944 erwirkte Hvass die Rückführung von 200 deportierten dänischen Polizisten aus dem KZ Buchenwald in das dänische Lager Frøslev. Daraufhin versuchte ein Widerstandskreis um den dänischen Admiral Carl Hammerich und den norwegischen Diplomaten Niels Christian Ditleff mit Unterstützung des schwedischen Prinzen Carl und des einflussreichen schwedischen Diplomaten Folke Bernadotte, bei Himmler die Freilassung der norwegischen und dänischen KZ-Häftlinge zu erwirken. Am 2. April 1945 wurden die dänischen Juden in die Verhandlungen einbezogen. Am 15. April 1945 wurden 425 noch lebende jüdische Häftlinge aus Dänemark im Rahmen der Rettungsaktion der Weißen Busse aus dem Konzentrationslager Theresienstadt abgeholt und in einem Konvoi durch Deutschland nach Dänemark gebracht. Die Busse passierten bei Padborg die dänische Grenze und fuhren – wegen des Jubels der dänischen Bevölkerung – auf Seitenstraßen zum Kopenhagener Hafen. Von dort aus wurden die Menschen nach Schweden in Sicherheit gebracht.
Opferzahl
Etwa 50 meist ältere Juden starben in Theresienstadt, weitere geschätzte 60 kamen bei der Flucht vor oder während der Deportation oder durch Suizid zu Tode. Zählt man noch sechs Angehörige der Hechaluz dazu, die bei ihrer versuchten Emigration von Dänemark über den Balkan nach Palästina ergriffen wurden und in Auschwitz umkamen, starben im Zeitraum Oktober 1943 bis 5. Mai 1945 etwa 116 Juden aus Dänemark an direkten oder indirekten Folgen der deutschen antijüdischen Maßnahmen.
Erinnerung
Der überlebende Schriftsteller Ralph Oppenhejm berichtete in seinem Tagebuch über die Haft in Theresienstadt.
Duckwitz wurde 1971 in Yad Vashem als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet. Zu seinen Ehren wurde in der Allee der Gerechten unter den Völkern in Yad Vashem eine Birke gepflanzt.
Dem dänischen Volk und der dänischen Widerstandsbewegung wurde zum Andenken an diese Rettungsaktion in Jerusalem eine Skulptur errichtet, die einem Schiff nachempfunden ist. Bei dieser Skulptur sind Gedenktafeln in Dänisch, Schwedisch, Hebräisch, Arabisch und Englisch angebracht, um die Rettungsaktion zu erläutern.
In Kopenhagen erinnert das Dänische Jüdische Museum an die Ereignisse. Die Stolpersteine in Dänemark, verlegt vom Künstler Gunter Demnig, erinnern an jene Menschen, die nicht gerettet werden konnten.
Mythos vom »Gelben Stern« in Dänemark
Von Zeit zu Zeit kursiert in den Social Media die Geschichte, in Dänemark sei Juden das Tragen eines Davidsterns vorgeschrieben worden, und umgehend hätten praktisch alle Dänen einen Davidstern getragen, um den Nazis (den Deutschen) den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Das »United States Holocaust Memorial Museum« schreibt dazu: »In Dänemark wurde nie ein jüdisches Kennzeichen eingeführt. Die Geschichte, wonach der dänische König Christian der Zehnte aus Solidarität mit den Juden selbst einen Gelben Stern trug, ist frei erfunden. Dieser Mythos mag seinen Ursprung in einer Bemerkung haben, die der König gegenüber seinem Finanzminister Vilhelm Buhl gemacht haben soll. Er soll geäußert haben, dass, wenn die Deutschen den Stern in Dänemark einführten, ›wir ihn vielleicht alle tragen sollten‹.«
Quellen: Wikipedia, USHMM
Foto: Palnatoke, National Museum of Denmark from Denmark, Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0
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