Von Christian Schröter, 26. Februar 2022, Lesedauer 2 Minuten, 12 Sekunden
Lesetipps für Gütersloh, H. D. Walden, »Ein Stadtmensch im Wald«
Zwei Jahre Corona und jeder geht anders damit um. Einige entfliehen der Enge zuhause in die Natur, manche zieht es in den Wald. Zeugnis davon abgelegt haben aber noch nicht viele. Der Schriftsteller Linus Reichlin hat es getan und hat sich dafür als Pseudonym einen großen Namen zugelegt: H.D. Walden. Vermutlich war das ein Fehler, denn das Pseudonym weckt durchaus Erwartungen. Was passiert: Ein bekennender Naturbanause zieht pandemiehalber in eine Hütte in den Ruppiner Wald und dort begegnet ihm Überraschung – die Wildnis mit ihren Tieren, auf der Erde, aber auch in der Luft. Die Vögel, die anfangs für ihn alle gleich sind, wecken und gewinnen seine Aufmerksamkeit.
Und was macht der Städter: Er legt sich eine Vogelbestimmungs #App zu, er beginnt die Vögel zu füttern und er macht Entdeckungen. Kohlmeisen, Kleiber, Dompfaffen und auch die Mönchsgrasmücke werden identifiziert und umzwitschern den Autoren. Das macht was mit ihm! So weit, so gut und nicht weiter verwunderlich. Der Wald lebt und für einen Städter lebt er vielleicht noch ein bisschen mehr. Denken wir nur an den Waschbären, der längst nicht mehr nur im Forst sein Wesen treibt, sondern schon so manchen Schrebergarten in der Stadt erobert. Ja, das Buch ist nett, aber auch ein bisschen naiv, vielleicht sogar noch ein bisschen mehr naiv. Der Aufenthalt in der Natur, die Geräusche, aber auch die Stille, regen Walden zum Nachdenken an und daran lässt er uns teilhaben.
Die Beschäftigung mit den Vögeln bringt ihn zur Frage: »Wie viele Hühner hatte ich in den letzten zehn Jahren gegessen? Jetzt hatte ich Zeit, es mal auszurechnen. Sicherlich ein ganzes Huhn pro Monat, zuweilen vielleicht sogar zwei. Das machte in zehn Jahren – wenn man von einem Mittelwert von anderthalb Hühnern ausging – hundertachtzig. Seit einigen Jahren waren es zwar hauptsächlich Bio Hühner. Aber an der schieren Anzahl änderte das nichts. Hundertachtzig Hühner in zehn Jahren, ganz zu schweigen von den vielleicht fünf oder sechs ganzen Schweinen, den zwei Rindern und den etwa dreihundert Lachsen. All diese Tiere hatte ich aufgegessen. Ich hatte sie nicht selbst getötet, aber töten lassen – das kam auf dasselbe heraus. Und jetzt hielt ich eine halbe Stunde lang ein Vögelchen in den Händen, das zwanzigmal kleiner war als ein Huhn, und bangte um sein Leben.« Ja, der Wald macht ganz augenschlich was mit einem, wenn man sich ihm mit offenen Sinnen nähert. Nichts wie hin!
Galiani Verlag, 2021, 112 Seiten, gebunden