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Alfred Kubin, 1877 bis 1959, Das Grausen, um 1902, Leopold Museum, Wien. Foto: Leopold Museum, Wien, Eberhard Spangenberg, München, Bildrecht, Wien 2022

Leopold Museum zeigt Alfred Kubin im Dialog mit kunsthistorischen Vorbildern und Zeitgenossen von Goya bis Ensor

Von Christian Schröter, 15. Mai 2022, Lesedauer 6 Minuten, 54 Sekunden

#Leopold #Museum zeigt Alfred Kubin im Dialog mit kunsthistorischen Vorbildern und Zeitgenossen von Goya bis Ensor

Wien (ots)

  • Die große Frühjahrsausstellung ist dem Schöpfer fantastischer, geheimnisvoller Visionen und seinen Inspirationsquellen gewidmet

In Anbetracht geopolitischer Konflikte und militärischer Auseinandersetzungen scheint das #Werk dieses »Organisators des Ungewissen, Zwitterhaften, Dämmerigen, Traumhaften«, wie Kubin sich selbst beschrieb, aktueller denn je. Gewalt, kriegerische Zerstörung, Seuchen, Naturkatastrophen, Manipulationen der Massen und andere Abgründe des menschlichen Seins prägen seine Arbeiten, die sowohl die Alltagsrealität, als auch die Rätsel jenseits der sichtbaren Welt in den Blick rücken. Auf einer Ebene des Leopold Museum, über elf Säle hinweg, setzt die Ausstellung Alfred Kubin. Bekenntnisse einer gequälten Seele sein Schaffen anhand zentraler Themen in einen Dialog mit kunsthistorischen Vorbildern sowie mit seinen Zeitgenossen. Künstler wie Francisco de Goya, Félicien Rops, James Ensor, Max Klinger, Odilon Redon, Gustav Klimt oder Edvard Munch prägten Kubins motivisches und formalästhetisches Vokabular, Autoren wie E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Gérard de Nerval, August Strindberg oder Gustav Meyrink zählten zu seinen literarischen Inspirationsquellen.

»Die Auseinandersetzung mit Alfred Kubins Werken bedeutet, eine Reise in die innersten Empfindungswelten des Künstlers, ins Labyrinth der Kubin’schen Seele zu machen und seinen überbordenden Einbildungskräften zu folgen. Es bedeutet auch, in kulturhistorische und gesellschaftliche Phänomene einzutauchen, die das geistige Fluidum des untergehenden Habsburgerreiches ausmachten und die Kubins Wesen und Kunst prägten«, Hans-Peter Wipplinger, Ausstellungskurator und Direktor des Leopold Museum.

»Sturz von Visionen schwarz-weißer Bilder« – Schaffensrausch nach Erweckungserlebnis

Kindheit und Jugend Kubins sind von traumatischen Erlebnissen, Scheitern und Depression gekennzeichnet: Entlassung aus dem Gymnasium, Abbruch der Fotografenlehre, früher Verlust der Mutter, ein Selbstmordversuch an ihrem Grab, eine Nervenkrise nach kurzer Militärzeit und weitere schwere Schicksalsschläge charakterisieren seinen Werdegang. 1898 übersiedelte er nach München, besuchte zunächst eine private Zeichenschule und in der Folge die Akademie der Bildenden Künste, gab das Kunststudium jedoch nach kurzer Zeit wieder auf.

Die Betrachtung von Max Klingers Radierungen im Münchner Kupferstichkabinett stellte ein Erweckungserlebnis dar, welches einen »Sturz von Visionen schwarz-weißer Bilder« auslöste und zu einem mehrere Jahre andauernden Schaffensrausch führte. Sein außerordentliches Frühwerk rief 1901/02 im Zuge seiner ersten bedeutenden Ausstellung in der Berliner Galerie von Paul Cassirer sowohl Entrüstung als auch Bewunderung hervor. In rund 60 Jahren schuf Kubin ein umfangreiches, vielseitiges Œuvre, das von wesentlichen stilistischen Veränderungen gekennzeichnet ist, in den dominierenden Motiven, Themen und Visionen aber Kontinuität bewahrte.

»Alfred Kubin. Bekenntnisse einer gequälten Seele intendiert, die Kunst der Kubin’schen Traumwelten, die allzu oft in düstere Sphären vordringt, in ihrem Bezug zum Unbewussten zu erfassen. Seine Werke werden in einen Dialog mit Arbeiten von Künstlern des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne gesetzt, die ihm als Inspirationsquellen dienten. Seine dystopischen Visualisierungen, die den Symbolismus und die fantastische Kunst des 19. Jahrhunderts fortführen, setzen sich aus realer und imaginärer Wirklichkeit zusammen: eine Synthese, in der das Unheimliche der pessimistischen Weltkonstruktionen auch mit Humor, Ironie und Übertreibung versehen ist«, Hans-Peter Wipplinger, Ausstellungskurator und Direktor des Leopold Museum.

Traumwelten, groteske Maskeraden und beängstigende Mischwesen

Gleich zu Beginn tauchen die Besucher in Kubins Erkundungen der menschlichen Abgründe im Zwielicht des Seins ein. Um 1900 pendelte das Weltbild zwischen einer bürgerlich-positivistischen Wissenschaft- und Vernunftgläubigkeit und einer irrationalen, anti-utilitaristischen Schicksalsgläubigkeit; der sich auch der angsterfüllte Künstler nicht entziehen konnte. In seinen Bildmotiven vermischte sich der Traum mit der Wirklichkeit, wobei Kubin traumhafte Stimmungen durch kompositorische Kriterien einfing.

Apokalypse und Krieg

Kubins Schaffen ereignete sich vor dem Hintergrund politischer und gesellschaftlicher Umbrüche; dem Niedergang des Habsburgerreichs und den schrecklichen Ereignissen der beiden Weltkriege. Ihm selbst blieb ein Einrücken aufgrund seines schwachen gesundheitlichen Zustandes erspart, dennoch plagten ihn Ängste vor einem Einberufungsbefehl und vor einem möglichen Sterben im Krieg. Bereits um 1900 entstandene Arbeiten zeigen Kriegsszenerien voller Qual, Folter, Chaos und Mord. Den Zweiten Weltkrieg erlebte Kubin zurückgezogen auf seinem Landgut im Zwickledter Schlösschen. Gegenüber den Nationalsozialisten, die sein Werk als »entartet« einstuften, verhielt er sich vorsichtig zurückhaltend.

Frauenbilder der Décadence, Dämonisierung des Weiblichen und männliche Allmachtsprojektionen

Die Ausstellung widmet sich darüber hinaus Kubins Projektionen des Weiblichen, welche durch frühe traumatische Erlebnisse geprägt waren. Bereits als Zehnjähriger erlitt er durch den Tod seiner Mutter einen tragischen Verlust. In seinem Katalogessay hebt der Psychoanalytiker und Psychiater August Ruhs den prekären Umstand hervor, dass sein Vater ein Jahr später Alfred Kubins Tante ehelichte und diese zu seiner Stiefmutter wurde. Nach einem Jahr sollte auch die Schwester seiner leiblichen Mutter sterben, der Vater heiratete später erneut. Ein sexueller Übergriff einer schwangeren Erwachsenen, den Kubin als Elfjähriger erlebte, und der Tod seiner ersten großen Liebe, Emmy Bayer, sollten ihn überdies nachhaltig beeinflussen.

Insbesondere in der Epoche des Fin de Siècle stellten männliche Künstler Frauen oftmals entweder als dämonisches Wesen oder als Mutter und Heilige dar. In Kubins Arbeiten dominiert das Bild des Weiblichen als Bedrohung, Angst und Schrecken belasten das Verhältnis der Geschlechter. Zahlreiche Typologien der Femme fatale sind im Symbolismus bzw. im Weltmodell der Décadence omnipräsent. Mit einem in der Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts weitverbreiteten männlichen Blick auf die Frau bettete auch Kubin weibliche Archetypen in Allegorien von Schicksal, Macht, Verderben und Vernichtung ein. Die geltenden Geschlechterrollen jener Zeit manifestierten sich ebenso in seinem Œuvre: die Ermächtigung der Frau ging mit der Entmachtung des Mannes einher. Der Mann fand seine Darstellung als schwächliches Opfer oder aber, als Echo auf den drohenden Verlust patriarchaler Herrschaftsstrukturen, als gewalttätiger Aggressor.

Das Individuum in der Krise, monströse Gewalten und ohnmächtiges Ausgeliefertsein

Einen weiteren Fokus bildet das Individuum in der Krise – in der Zeitenwende um 1900, in der das Selbst einer kritischen Neubewertung unterzogen wurde. Sigmund Freuds wegweisende Publikation Die Traumdeutung (1899) und insbesondere Carl Gustav Jungs Konzept der Archetypen faszinierten Kubin, der sich wiederholt mit Fragen nach Geburt, Leben und Tod auseinandersetzte: »Der #Tod, das Nichts ist das Ziel der Welt […]. Jeder läuft wie eine Maschine den vorgezeichneten Weg unbedingt ab«, schrieb der erst 27 Jährige während seiner Münchner Zeit. In ihren Bildanalysen im Rahmen der Ausstellung bezeichnet Annegret Hoberg, Kubin #Forscherin und langjährige Leiterin des Kubin-Archives im Lenbachhaus München, diesen Zustand des ohnmächtigen Ausgeliefertseins an eine Schicksalsmacht als »ausweglose Geworfenheit des #Menschen in kosmische Leere« – sei es im Hinblick auf eine Naturkatastrophe, eine als bedrohlich imaginierte Weiblichkeit oder eine Pandemie.

Urzeitliche Kosmen und unheimliche Orte

Ein weiterer Bereich der Präsentation ist Kubins Darstellung der Frau als Gebärende inmitten urwüchsiger Natur und seinem Interesse für Unterseelandschaften und urzeitliche Wesen gewidmet. Entlehnt von Johann Jakob Bachofens Theorien zur Mutter als lebensspendender Göttin in sumpfiger Natur, mündete diese Welterschaffungsmythologie in einer dualistischen Sicht des Weiblichen, für die auch Kubin empfänglich war. Die Frau wird von Bachofen als Lebensspenderin beachtet, die gleichzeitig auch die Voraussetzung für den Tod schaffen würde.

Im letzten Raum der Ausstellung wird der Fokus schließlich auf unheimliche Orte in Kubins Œuvre gerichtet, wie etwa apokalyptische Naturkatastrophen, Hochwasser oder Stürme. Das Zwickledter Schlösschen, in das er sich mit seiner Frau Hedwig über Jahrzehnte hinweg zurückzog, dürfte ebenso dämmrig-düstere Facetten gehabt haben wie sein literarisches Traumreich »Perle« im Roman Die andere Seite. Kubins Ängste wurden mit dem Älterwerden wohl gelindert, jedoch nicht aufgelöst. Der unheimlichste Ort sollte das Jenseits und damit der Tod sein. Als er sich am Totenbett 1959 einer ärztlichen Behandlung unterzog, sagte er einen für sein Leben und Werk beispielhaften Satz: »Nehmen Sie mir meine Angst nicht, sie ist mein einziges Kapital.«

Exponate und Katalog

Alfred Kubin. Bekenntnisse einer gequälten Seele wurde auch durch die großzügige Unterstützung österreichischer wie internationaler Leihgeber ermöglicht. Die Präsentation umfasst 248 Exponate, darunter 50 Archivalien. Von den 162 Werken von Alfred Kubin stammen rund die Hälfte aus der Sammlung des Leopold Museum. Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog in deutscher und englischer Sprache mit Essays von Annegret Hoberg, August Ruhs, Burghart Schmidt, Lena Scholz und Hans-Peter Wipplinger.

Kurator ist Hans-Peter Wipplinger In Zusammenarbeit mit August Ruhs.

Leopold Museum Privatstiftung

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